Arbeitsnahe Tätigkeiten

Bei einigen schwerst mehrfachbehinderten Menschen muss der Begriff „Arbeit“ neu überdacht und hinterfragt werden. Hier geht es nicht mehr um die gesellschaftliche Einbindung eingeschränkter Arbeitsleistungen, sondern um das weithin fehlende Verständnis, was bei einer Arbeit gefordert ist.

Die Frage lautet:       
Wie können Menschen am Arbeitsleben teilhaben, die – wie viele schwerst mehrfachbehinderte Menschen - auch einfachste Arbeitabläufe bislang weder verstehen noch durchführen können?   
Muss zur Teilhabe am Arbeitsleben ein Ergebnis angestrebt werden, oder reicht es am gleichen Ort mit anderen Menschen zu sein und mit ähnlichem Material oder Themen wie sie umzugehen?
Bisher wurde das Konzept unseres Vereins, die Betonung auf Arbeit und Begegnung, diesen Herausforderungen nur begrenzt gerecht.

Dazu ein Fallbeispiel:
Ein schwerstbehinderter querschnittgelähmter junger Mann kann mit Kopf und Zunge zwar unmittelbar vor ihm befindliche Dinge berühren, nicht aber sie zielgerichtet bewegen oder anderswie handelnd mit ihnen umgehen. Wie weit er eine an ihn gestellte Anforderung versteht, ist schwer festzustellen, da er nicht spricht und auch mit anderen Mitteln sich nur begrenzt verständlich machen kann. Seine leuchtenden Augen und ein herzliches Lachen verraten jedoch ein starkes Interesse an persönlicher Zuwendung und Ansprache. Persönliche Ansprache, Musik und Wahrnehmungsübungen bilden bisher einen Schwerpunkt der Förderung innerhalb der Einrichtung, in der er lebt.      
Ein anderer junger Mann, sein Freund, ist ebenfalls gelähmt, kann aber mit den Händen greifen und loslassen – allerdings zeigt er bislang wenig Interesse daran.         

Den Begriff der „Arbeit“ als Zielperspektive für diese beiden Menschen anzuwenden, ist meines Erachtens problematisch. Bisher gehen wir davon aus, dass auch ohne eine wirtschaftliche Verwertbarkeit des Ergebnisses ein geistig schwer behinderter Mensch am gesellschaftlichen Arbeitsleben teilnehmen kann. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den über die Arbeit vermittelten mitmenschlichen Begegnungen. Wie aber kann eine Teilhabe am Arbeitsleben aussehen, wenn selbst einfachste Arbeitsabläufe nicht verstanden und nachvollzogen werden?      
Das Problem liegt hier nicht in der Verwertung einer Arbeitsleistung, sondern im Verstehen, was überhaupt gefordert ist. Mitunter kann hinzukommen, dass einige Menschen möglicherweise im Ansatz verstehen, was gefordert ist, dieses aber nicht als sinnvolle Handlung für sich empfinden.     
So zeigen einige Menschen mit Behinderungen kaum Interesse am erkundenden Umgang mit Dingen. Was sie mit den Händen ergreifen, werfen sie nach kürzester Zeit wieder weg oder sie hantieren im stets gleichen Muster mit den Dingen. Hier gilt es anzusetzen an den spontanen Tätigkeiten des Betreuten und in dem großen Spannungsfeld zum Arbeitsbegriff einige Annäherungen zu versuchen. Vielleicht könnte uns ein Begriff wie „
arbeitsnahe Tätigkeiten“ dabei einige Schritte weiter bringen.

Bei „arbeitsnahen Tätigkeiten“ handelt es sich um Tätigkeiten

  • die nicht den Anspruch von „Arbeit“ erfüllen müssen
  • die möglichst außerhalb von Sondereinrichtungen dort stattfinden, wo andere Menschen ihre Arbeit verrichten
  • die mit den vor Ort gegebenen Mitteln und Themen den Interessen und Fähigkeiten des Betreuten nahe kommen
  • die Begegnungen ermöglichen
  • die Aktivität und Interesse anregen
  • die Anstrengung verlangen, jedoch nicht zu einem bestimmten Ziel führen müssen
  • die Spaß, Erlebnisintensität und Aktivität vor rationale Einsicht und Zweckmäßigkeit stellen.

Über „arbeitsnahe Tätigkeiten“ sollen auch Menschen am gesellschaftlichen Arbeitsleben teilhaben können, die nicht verstehen, was Arbeit ist. Damit radikalisiert sich das bisherige Konzept unseres Vereins. Eine Teilhabe am Arbeitsleben ist demnach nicht nur möglich, auch wenn Menschen kein wirtschaftlich verwertbares Ergebnis erbringen – sie soll sogar möglich werden ohne im engeren Sinne zu arbeiten. Dies bedeutet dennoch nicht, dass die daran beteiligten Menschen auf eine Zuschauerrolle beschränkt bleiben.

Wie dieses vielleicht aussehen könnte, sei an den soeben erwähnten Fallbeispielen verdeutlicht.
Wir gehen dabei zunächst aus von den ihnen vertrauten Förderangeboten. Dabei handelt es sich vor allem um grundlegende Wahrnehmungsübungen (basale Stimulation). Über gezielt angebotene Sinnesreize des Fühlens, des Riechens, des Hörens und des Sehens und über eine sehr persönliche gefühlsbetonte Ansprache wird ihr Interesse angeregt. Auf jeweils unterschiedliche Weise spüren sie den eigenen Körper; sie erleben die Begegnung mit dem Betreuer im handelnden Miteinander und sie erleben Eindrücke aus ihrer Umgebung in einer Weise, die ihnen zugänglich und interessant erscheint. Diese Angebote bekommen sie bisher innerhalb der Einrichtung, in der sie leben.         
Nun sollen Wahrnehmungsübungen in anderen Zusammenhängen und an anderen Orten angeboten werden. Dabei ist zu überlegen, an welchen Orten starke Wahrnehmungsreize auftauchen. Es müssen durchaus nicht nur angenehme Reize sein, da jedes Erleben auch auf Gegensätzlichkeit beruht. Die Gesamtsituation sollte jedoch als angenehm, interessant und motivierend erlebt werden. Die Orte sollten Gegebenheiten sein, wo andere Menschen arbeiten und wo dieses auch atmosphärisch spürbar wird.       
Solche Orte könnten beispielsweise sein:

  • eine Gärtnerei; mit Pflanzen, Erde und duftenden Kräutern
  • ein Bauernhof; mit Tieren, Gemüse- und Getreidefeldern und Maschinen
  • eine Fabrik; mit ihren Geräuschen, Gerüchen und dem spürbaren festen Arbeitstakt
  • eine Bildungseinrichtung; mit Pausenlärm, Türenklappen und zeitweise konzentrierter Stille
  • ein Büro; mit Anfragen und Unterhaltungen in unterschiedlichsten Stimmlagen
  • ein Kleinzoo; mit Tieren, die zu füttern sind und von denen sich einige streicheln lassen

Die Arbeitssituation muss bei jedem dieser Beispiele sehr stark auf den schwerst- und mehrfachbehinderten Teilnehmer zugeschnitten werden. Sie ist vom Ergebnis losgelöst und ganz auf den Erlebnischarakter der Arbeit zugeschnitten. Für den Betrachter von außen wird sie oft nicht gleich als Teilhabe am Arbeitsleben erkennbar sein, sondern vielleicht eher den Anschein von Freizeitaktivität erwecken. Die Ernsthaftigkeit von solchen „arbeitsnahen Tätigkeiten“ wird möglicherweise erst nach längerer Zeit zu vermitteln sein. Welchen Ort wir für solche Arbeiten finden, hängt stark von unserem Vorstellungsvermögen ab und von Menschen, die einem solchen Anliegen aufgeschlossen gegenüber stehen.

Zur Einordnung der Tätigkeiten in einen Gesamtzusammenhang von Arbeit ist es hilfreich, wenn mindestens einer der Teilnehmer begrenzte Arbeitsleistungen erbringen kann – zum Beispiel Tiere füttern. Noch vorteilhafter ist es, wenn das Geschehen gleichzeitig an einem Ort stattfindet, wo in sicht– und hörbarer Nähe ein Ansprechpartner (wie etwa der Bauer) seiner normalen Arbeit nachgeht. Dies zu organisieren und geeignete Kompromisse zu finden, ist Aufgabe des Betreuers.

Mit unserem neuen Konzept für schwerst mehrfachbehinderte Menschen stehen wir noch ganz am Anfang. Wir wollen versuchen, dafür Mitstreiter in der Öffentlichkeit, in anderen Einrichtungen und Verbänden zu gewinnen.

Auch über Ihre Anregungen oder Kritik als Leser dieser Zeilen würden wir uns sehr freuen.