Welchen Beitrag kann die Integration von geistig schwer behinderten Menschen

zur Humanisierung des Arbeitslebens leisten?

 

Vortrag von Herrn Professor Dr. Wolfgang Praschak
im März 2002 an den Berufsbildenden Schulen Walsrode

 

Veranstalter: Verein Arbeit und Begegnung e.V.

                                                                                                Berufsverband dder Heilpädagogen (BHP)

 

 

 Herr Prof. Dr. Wolfgang Praschak ist Professor für Erziehungswissenschaft an der UNiversität Hamburg.Sein Studienschwerpunkt liegt in Beeinträchtigungen der körperlichen und motorischen Entwicklung.
Im Mittelpunkt seiner Arbeit und Forschungen stehen 

• Pädagogik bei schwerster Behinderung
• Entwicklungsstörungen in der frühen Kindheit
• Körperarbeit in pädagogischen Prozessen
• Theorie und Praxis der Bewegungstherapie
• Sozialgeschichtliche Grundlagen der Betreuung Körperbehinderter

 

 

 

1. Das integrative Selbstverständnis in der heutigen Behindertenpädagogik 
In meinem heutigen Vortrag beschäftige ich mich mit einer Fragestellung, die auf ein weit verbreitetes Vorurteil hindeutet, das sich aufgrund einer langen Tradition in unseren Köpfen festsetzen konnte. Es fußt in der Annahme, dass behinderte Menschen in Sondereinrichtungen gehören und gipfelte in dem Glauben, dass geistig und körperlich schwerbehinderte Menschen in unserer Arbeitswelt eigentlich nichts zu suchen hätten. Ich finde das bemerkenswert, denn bis heute haben wir es weitgehend versäumt uns vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Diese Praxis verträgt sich jedoch nicht mehr mit dem integrativen Selbstverständnis, das sich in der Behindertenpädagogik entwickelt hat. Die Fronten zwischen den Befürwortern des Ausschlusses behinderter Menschen und ihren Gegnern sind mittlerweile aufgeweicht. Vermittelnde Erfahrungen werden nicht mehr nur abgeblockt, sondern mit Interesse betrachtet. So auch in der Arbeitswelt.       
Das integrative Selbstverständnis, das Teil unsere Gesellschaft geworden ist, sieht in Behinderten in erster Linie Menschen, die wie andere Menschen auch, ihre Persönlichkeit nur mit anderen Menschen zusammen in Freiheit und Gleichheit entfalten und entwickeln können. Das ist zumindest in der Fachwelt als grundlegender Standpunkt anerkannt. Zu diesem gibt es keine wirkliche Alternative. Aus diesem Grund pochen wir darauf, dass behinderte Menschen nicht mehr als absonderliche Wesen behandelt werden. Wir gestehen ihnen dieselben Erfahrungswelten zu, wie wir sie für jeden Menschen als wertvoll erachten. In den Familien, in den Kindergärten und in den Schulen arbeiten wir mittlerweile nach diesem Prinzip. Jedoch noch nicht in allen Lebensfeldern, die nach der Schule zu bewerkstelligen sind. Aus diesem Grund streben wir danach, dass die weitere Festschreibung der Sonderstellung behinderter Menschen auch in diesen Lebensbereichen relativiert werden kann. Deshalb ist eine durchgängige Humanisierung der Arbeitswelt gefragt, die dieses Problem nicht mehr aussparen und dessen Lösung nicht mehr nur den Sondereinrichtungen überlassen will.
Neue Wege sind zu finden. Fantasie und Initiative gefragt. Zwischenmenschlich als auch finanziell. Die frühre Aussonderung behinderter Menschen mit dem Ziel ihrer späteren Integration hat weitgehend versagt. Wir müssen demnach die Zusammenarbeit mit all jenen verstärken, die im weiten Feld integrativer Projekte schon bedeutsame Erfahrungen gesammelt haben. Genau in diesem Feld hat sich der Verein „Arbeit und Begegnung e.V.“, auf dessen Einladung ich hier zugegen bin, schon erhebliche Verdienste erworben, die ich hervorheben und deren Zielsetzung ich unterstützen will.
Erlauben Sie mir also, dass ich Sie in ein vielschichtiges und zugleich umstrittenes gesell-schaftliches Handlungsfeld führe, nämlich in das der beruflichen Integration von erwachsenen Menschen, die mit einer gravierenden geistigen und körperlichen Behinderung ihr Leben gestalten müssen. Ich muss ihre Gedanken in diese Richtung leiten, weil ich davon überzeugt bin, dass auch im nachschulischen Sektor sinnvolle Beschäftigungen für diese Menschen zu finden sind. Ich bezweifle, dass das nur in den verschiedenen Sondereinrichtungen möglich ist. Ich bin davon überzeugt, dass auch schwer behinderte Menschen ihre Fähigkeiten in anderen Bereichen unseres Zusammenlebens ausschöpfen können, dass sie also auch außerhalb der Werkstatt für Behinderte und ihrer beschäftigungstherapeutischen Äquivalenzen, mit nichtbehinderten Menschen zusammen gemeinsame Projekte bewerkstelligen können. 
Ich möchte mit einer kleinen Geschichte beginnen, die vielleicht ein für sie zunächst unerwartetes Licht auf die Fragestellung meines Vortrags wirft:
Als ich vor noch nicht allzu langer Zeit in einer Tagesförderstätte für geistig und körperlich schwer behinderte Erwachsene zu Besuch war und der Leiterin von der Thematik dieses Vortrags erzählte, blickte sie mich sehr verwundert an und meinte ziemlich aufgeregt, dass das ja wohl ein ziemlicher Blödsinn sei, was ich da zu unterstützen gedenke. Experimente mit schwerstbehinderten Menschen zu unterstützen, das sei ihr nun wahrlich fremd. So etwas sei doch viel zu riskant, ja grenze schon an Fahrlässigkeit. Nein, meinte sie, dazu wären ihr ihre Behinderten zu schade. Für sie mache das überhaupt keinen Sinn.   
Sie können sich vorstellen, wie aufgebracht ich innerlich war. Diese Reaktion hatte ich gerade von dieser Frau nicht erwartet. Ich hatte sie nämlich als eine Persönlichkeit schätzen gelernt, die der Integration behinderter Menschen sehr aufgeschlossen gegenüber stand. Ich fühlte mich von ihr überfahren. Ihre ablehnende Haltung konnte ich nicht überhaupt nicht verstehen. Ihr Missmut regte mich auf. Das musste ich klären.           
Im anschließenden Gespräch, das doch recht heftig war, stellte es sich dann heraus, dass ein grundlegendes Missverständnis ihre ablehnende Haltung erzwang. Sie hatte mich nämlich so verstanden, als plädiere ich dafür, schwerstbehinderte Menschen öffentlichen Arbeitsverhältnissen einfach auszusetzen, um sie ungeschützte Erfahrungen machen zu lassen, die denen der Mehrheit der Bevölkerung entsprachen. Es war nicht schwer, ihr klar zu machen, dass so etwas selbstredend als absurd, blauäugig und ziemlich naiv abzukanzeln war. Damit wäre schwer behinderten Menschen nun wirklich kein Dienst erwiesen, würden sie doch in unbekannten und ungewohnten Abläufen zerrieben, physisch und psychisch vollkommen ausgelaugt. Auf diese Weise wäre jede gute Absicht dahin und die bestehenden Vorurteile würden sich eher verstärken.        
Als wir dies aufgeklärt hatten, wurden die Atmosphäre zwischen uns wieder entspannter und wir konnten uns gegenseitig versichern, dass gerade in solchen Projekten auf behindertenpädagogischen Sachverstand und zwischenmenschliches Feingefühl nun überhaupt nicht zu verzichten sei. Die Auswahl der Beschäftigung, der Ort ihrer Umsetzung und das jeweilige Vorgehen galt es sehr gut zu überlegen. Das Maß an individueller Begleitung muss in wohl dosierter Weise erfolgen, damit sich die behinderten und die nichtbehinderten Menschen zu-sammen wohlfühlen und auch zusammen arbeiten können. Die neuen Wege müssen gut begründet sein, damit sie auch von Nichtfachleuten mitgetragen werden können. Das Bewährte gerät auf diese Weise niemals in Gefahr sondern bleibt immer ergänzend erhalten. Wir wollen keine Palastrevolution, sondern suchen nach einer Beschäftigung, die für schwer behinderte Menschen sinnvoll ist und es noch werden kann. Es geht um eine schrittweise Veränderung, nicht um blinden Aktionismus, der einfach durchgezogen werden soll. Niemand darf dazu gezwungen werden. Weder die Verantwortlichen noch die Beteiligten dürfen überfordern sein. Die Maßnahmen müssen mit den persönlichen Ressourcen der Beteiligten in Übereinstimmung stehen. Lassen sie mich das im Folgenden etwas breiter begründen:

2. Die Konsequenzen eines neuen Menschenbildes für ein lebenslanges Lernen        
Das Prinzip „Nachhaltigkeit“ beginnt in unser Gesellschaft, das Zusammenleben immer mehr zu bestimmen: national und global, politisch und sozial. Wir sehen immer deutlicher, dass jeder von uns eine Verantwortung dafür trägt, dass auch die zukünftigen Generationen auf dieser Erde einen Lebensort vorfinden, an dem das Überleben der Gemeinschaft gewährleistet ist. Wir müssen mit aller Nachhaltigkeit darauf pochen, dass die Vielfalt der Arten überleben kann so wie wir Sorge dafür tragen müssen, dass auch der einzelnen Mensch seine Ressourcen ausschöpfen kann. Wir brauchen den Erhalt der ganzen Gattung. Deshalb können wir die Vielfalt und den Einzelnen niemals verzichten. Auch aus Gründen der Solidarität, die in allen Demokratien zu einem Wert geworden ist, der das gesellschaftliche Zusammenleben erhält. Diese Einheit in Vielfalt verwerfen zu wollen, käme einem ethischen Dammbruch gleich, der die Lebensqualität aller Menschen betrifft. Das ist vor allem jenen klar, die die Debatte um eine sog. neue Euthanasie mitverfolgt haben und dabei erkennen mussten, dass heute wieder im Namen des Glückes der Mehrheit auf Einzelnen verzichtet werden soll. Das nicht zulassen zu können, ist der ethische Grund, warum wir auf Nachhaltigkeit pochen, die sich in der Solidarität aller mit allen einen gesellschaftlichen Ausdruck verschafft. Gelernt wird Solidarität nur in Kooperation, die wir deshalb auch für Menschen einfordern müssen, deren Möglichkeiten zunächst gar nicht so vielfältig sind. Die aber dennoch ein Leben haben, das es zum Wohle aller zu erhalten gilt. Deshalb sind wir verpflichtet mit unseren materiellen, ideellen und ethischen Ressourcen sehr sorgsam zu verfahren, um nicht wieder eine Flutwelle entstehen zu lassen, in der unschuldige Menschen dann ertrinken.

3. Internationale Tendenzen      
Die Prinzipien Nachhaltigkeit, Integration, Partizipation und Kooperation gewinnen auch in der internationalen Fachdiskussion immer mehr an Bedeutung. Die grundsätzliche Gleichbehandlung aller Menschen ist mithin ein weltweites Thema, das auch von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon seit jeher sehr ernst genommen wird. Diese Organisation hat mit dem ICIDH 2 (International Classifikation of Impairments, Disabilities and Handicaps) nun ein Manual vorgelegt, das der Erfassung und Klassifikation von „Behinderung“ dienen soll, allerdings ohne sich auf negative Standards zu beziehen. Das Manual zählt also nicht mehr Schädigungen und Beeinträchtigungen auf, sondern will die Aktivitätsmöglichkeiten des Einzelnen klassifizieren, um nach seinen gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten Ausschau halten zu können. Das ist sehr sinnvoll, denn auch eingeschränkte Aktivitätsmöglichkeiten beinhalten immer ein bestimmbares Maß an Partizipation, die an gesellschaftlichen Prozessen vorzusehen ist. Damit kommen im internationalen Rahmen Leitvorstellungen zum Tragen, die auch den unseren entsprechen. Das ist von großer Bedeutung für das Zusammenleben mit behinderten Menschen, die immer mit Partizipationseinschränkungen leben müssen. Es ist ein schöner Ausblick, wenn die Partizipation des Einzelnen am gesellschaftlichen Ganzen keiner besonderen Begründung mehr bedarf, die Sonderbehandlung also kein sich selbst legitimierender Zweck mehr ist. Diese Veränderungen werden schwierig sein, insbesondere in der Arbeitswelt, die uns gerne vorgaukeln will, dass der Preis für die Entmenschlichung, die dort immer noch herrscht, mit Geld oder Karriere aufgewogen werden kann. Doch genau das klappt eben nicht. Insofern ist die Humanisierung der Arbeitswelt unser aller Problem, an dessen Lösung auch behinderte Menschen mitwirken können.

4. Zum Sinn der Integration von schwer behinderten Menschen in die
    Arbeitswelt

Die WHO will, dass alle Menschen in ihrem häuslichen Alltag, beim Spielen und Lernen, aber auch in der Arbeitswelt etwas sinnvolles tun, das sie an die Gegebenheiten ihrer Lebenswelt heranführen kann. Diese Wertbestimmung braucht jeder. Nur dann sind Entwicklung und Lernen gesichert. Wer das nicht findet, ist zum Durchhalten in Langeweile verdammt. Seine Möglichkeiten zur Mitverantwortung gegen verloren, und seien diese noch so klein. Das nicht zu bekommen, oder wieder verlieren zu müssen, ist keine Alternative zu einem erfüllenden Leben.      
Das ist der Grund, warum wir darauf pochen müssen, dass auch schwerst behinderten Menschen die Türe zu Arbeit und Beschäftigung nicht verschlossen bleibt. Auch sie wollen Ordnungssystemen gelangen, die denen der Mehrheit entsprechen. Selbstredend kann das nicht in allen Produktions- und Konsumtionsbereichen dieser Gesellschaft gelingen. Weder am Fließband noch an der Kasse im Kaufhaus macht ihr Einsatz einen Sinn. Doch wird es auch für sie immer Beschäftigungsfelder gehen, die zur begleiteten Selbsttätigkeit offen stehen. Nicht Konkurrenz, Steigerung von Produktivität und Effizienz der Vollzüge, können in diesen Feldern Maßstäbe des Handelns sein. Hierfür müssen andere Werte stehn. Werte einer zu mehr Menschlichkeit hin veränderten Arbeitskultur, in der die gegenseitige Hilfe und ein individuelles Zeitmanagement die wichtigsten Bezugsgrößen sind. In diesen Feldern muss es in erster Linie um die Würde des Einzelnen gehen, ganz im Sinne des BSHG, in dem es heißt: „Aufgabe der Sozialhilfe ist es, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht.“ Auch wenn unsere Konkurrenzgesellschaft diesen Maßstab noch nicht entspricht, sollten wir nicht der Versuchung erlegen, ihn als nicht wünschenswert oder gar als nicht machbar erachten zu wollen. Leitprinzip der Veränderungen in der Arbeitswelt kann nicht die Gewinnmaximierung sein, sondern Entwicklung der Fähigkeiten des Einzelnen im Spiegel von mehr Humanität. In diesem Sinne muss das Prinzip „Nachhaltigkeit“ durchgesetzt werden, damit wir in Zukunft nicht im Mobbing ersticken.
Dass die Erwerbsarbeit in unserer Gesellschaft einen besonders hohen Stellenwert hat, klingt banal. Doch hinter dieser Banalität hält sich unsere Identität verborgen und ist unser Selbstwert versteckt. Beide bemessen sich zumindest im Erwachsenalter daran. Arbeitslosigkeit hingegen, wird in der Regel als Ausgrenzung erlebt. Denn: Lebenswert und Orientierung gehen verloren, die die Betroffenen in die Depression abgleiten lässt. Gerade in den letzten Jahren ist es das immer offenkundiger geworden, weil die Arbeitsmöglichkeiten unserer Gesellschaft immer begrenzter geworden sind angesichts der zunehmenden Rationalisierungstendenzen und den immer globaler werdenden Unternehmenszusammenschlüssen, die unsere Aussichten auf Verbesserung deutlich verstellen. Kaum mehr jemand glaubt ernsthaft daran, dass sich in absehbarer Zukunft daran etwas verändern wird. Die Krise der Arbeitsgesellschaft hat sich zu einer Krise des Sozialwesens erweitert und ist mittlerweile zu einer Krise der Mehrheit geworden. Für Menschen mit Behinderung hat sie sich – zumindest was die Gesetzgebung anbelangt - in den letzten Jahren jedoch Deutliches verändert. Nicht zuletzt, weil es nicht mehr so ohne weiteres hingenommen wird, dass sich die freie Wirtschaft aus ihrer Beschäftigungsverpflichtung für schwerbehinderte Menschen so einfach freikaufen kann. Für schwer behinderte Menschen sind folgende Veränderungen des Schwerbehindertengesetzes bedeutsam geworden:

• Die Integrationsfachdienste finden stärkere Berücksichtigung und sollen mehr gefördert werden.
• Auch die Werkstätten für Behinderte sollen dafür Sorge tragen, dass deutlich mehr behinderte Menschen auf dem freien Arbeitsmarkt beschäftigt werden können.
• Integrationsfirmen sollen gegründet und in besonderer Weise unterstützt und gefördert werden;
• Das Recht auf begleitende Hilfen am Arbeitsplatz ist nun gesetzlich verankert.
• Die Ausgleichsabgabe für die Nichtbeschäftigung wurde abgestuft, aber deutlich erhöht.
In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass der Gesetzgeber uns nun dazu verpflichtet hat, vermehrt auch für Menschen mit schweren geistigen und körperlichen Einschränkungen Beschäftigungsverhältnisse anzubieten, die die Struktur von Arbeit haben, mithin alle Vorteile und Verpflichtungen bergen, die das gesellschaftliche Arbeitsverhältnis konstituieren und als Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung allgemeine Anerkennung finden.:

• Der soziale Horizont wird erweitert: Es entstehen Kontakte über das Wohnheim, die Familie und Nachbarschaft hinaus.
• Das Wissen um die Welt wird vergrößert: Die Mitverantwortung an einem ein Produkt und die Beteiligung an kollektiven Zielen fordert den Einzelnen in seinen Fähigkeiten in einer besonderen Weise heraus. Arbeit zwingt zur Entwicklung der schlummernden Kräfte.
• Der soziale Status wird positiv verändert: die gesellschaftliche Anerkennung steigt und der Aufbau persönlicher Identität wird über gemeinschaftliche Sinnstiftungen ermöglicht und macht den Wechsel von Verpflichtung und Freiheit erlebbar.
• Die Arbeit erschafft Zeiterfahrung: Der Alltag und die Lebensprozesse werden strukturiert. Der notwendig Wechsel zwischen Arbeitswoche und Wochenende macht den Wechsel von Anspannung und Entspannung nachvollziehbar.

5. Humanisierung der Arbeitswelt als Gegenstand von Bildungsarbeit.
Arbeiten ist mehr als Geld verdienen, denn im Kern geht es bei der Arbeit vielfältig motivierte Tätigkeiten, die in ihrer persönlichen und sozialen Dimension wertgeschätzt werden. Es geht um bewusstes Selbsterleben und das Gefühl, etwas wiederkehrend Sinnvolles zu tun, das auch mit anderen Menschen geteilt werden kann und auch diese eine Bedeutung hat. Im gesellschaftlichen Kontext geht es zudem um die Sicherung von Lebensqualität, mithin um den Erhalt der menschlichen Würde. So auch für behinderte Menschen, selbst dann, wenn diese bei derartigen Verrichtungen auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Das umschreibt der Begriff der Arbeitsassistenz, der auch dann Anwendung findet, wenn es um keine vollwertigen Arbeitsverhältnisse, sondern um Beschäftigungsformen geht, auf die sich der behinderte Erwachsene einlassen kam. Arbeitsassistenz entzieht sich folglich der Enge eines Arbeitsbegriffes, der Arbeit auf die verwertbare Leistung reduziert. Einer derartigen Verkürzung müssen wir uns entgegen stellen. Ihr gilt es zu entfliehen. Ob dies allerdings in absehbarer Zukunft geschehen wird, hängt in hohem Maße von denjenigen ab, die das wollen und die daran mitwirken, dass in den sozialen Nischen unserer Arbeitswelt, in denen behinderte Menschen einen Platz finden können, ein Stück mehr Humanität einziehen kann.
In diesen Nischen zählt nicht mehr nur der zu erzielende Gewinn, oder gar die Steigerung der Produktivität. Es zählt viel mehr der Genuss, den derjenige hat, der jemanden dabei begleiten kann, seine subjektive Leistungsgrenze finden zu können. Es zählt viel mehr, dass in den gemeinsamen Tätigkeiten etwas geschaffen wird, was im Spiegel einer humanen Kultur einen individuellen Wert erschafft. Solche Formen der Arbeitsassistenz können folglich lebenslänglich ein Stück mehr Sinn in der Existenz von schwer behinderten Menschen entfalten. Das kann bei Gartenarbeiten geschehen, bei landschaftspflegerischen Tätigkeiten, in der Landwirtschaft. Mithin bei allen Dienstleistungen, die, im Haushalt, in Einrichtungen und Verwaltungen tagtäglich zu erbringen sind. Es handelt sich um einfach strukturierte Tätigkeiten, die immer wieder in derselben Weise zu verrichten sind. Als Beispiel sei das Sammeln von wieder verwertbarem Material genannt, das zudem noch gesellschaftlichen Nutzen erbringt. Diese Tätigkeiten gewinnen aber erst über ihre mitmenschliche Ausgestaltung ihren wirklichen Wert. Sie sind also pädagogischer Natur. Das zu sehen und in das gesellschaftliche Verständnis von Arbeit aufnehmen zu wollen, ist eine Aufgabe, die wir bewerkstelligen können. Das wäre eine bedeutende Erweiterung unseres Horizonts und zugleich eine soziale Bereicherung unserer Arbeitswelt. Wenn sich solche Beschäftigungsmöglichkeiten ausweiten könnten, würde neues Einfühlungsvermögen entstehen. Mitmenschliche Geduld würde neu und ganz hautnah erfahren. Die Bedeutung der Langsamkeit würde wieder entdeckt. Die Freude am scheinbar Belanglosigkeit tritt ins Leben zurück. Das könnte die Sucht nach mehr Geld und Status ein Stück weit ersetzen. Es käme einem staunenden Innehalten gleich, in einem sonst dem Menschen doch sehr entfremdeten Arbeitsprozess. Wohl dem, der das erleben kann.  
Die fortschreitende Humanisierung unserer gesellschaftlichen Bezüge ist möglich. Jedoch beruht sie durchgängig auf einer Bildungsarbeit, die als kulturelle Herausforderung immer wieder neu bewältigt werden muss. Sie ist für uns alle ein lebensgeschichtliches Thema, das folglich niemals abgeschlossen ist. Diese Bildung formt die ganze Persönlichkeit. Sie ist eine Praxis der Freiheit, weil sie existenzielle Probleme aufgreift und nach neuen Lösungsmöglichkeiten sucht. Sie ist eine Hilfe zur Selbsthilfe und deshalb Teil eines Bildungskonzepts, das die Verbesserung der Lebensverhältnisse aller Menschen zum Gegenstand hat. Sie funktioniert nur dann, wenn die jeweiligen Interessen und das Entwicklungsniveau der Betroffenen angesprochen ist. Sie macht nur Sinn, die beteiligten an der Lösung von wirklichen Problemen beteiligt sind. Diese Bildung ist eine Grenzerfahrung im alltäglichen Leben, insofern sie dabei hilft, die bestehenden Erfahrungsgrenzen überschreiten zu können. Sie ist kulturelle Wertbildung innerhalb einer lebensbejahenden Kultur. Sie hilft neue Formen der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen individuell wertvoll werden zu lassen. Sie gipfelt in einem zum Menschlichen hin veränderten Zusammenleben, das die Persönlichkeit derer, die daran beteiligt sind, erweitert, und das die Grenzen der menschlichen Existenz aufzuwerten weiß. Sie ist eine Form der Humanisierung des Menschen, die sich auf verschiedenen Ebenen erweist:

• Auf der Ebene der Nachhaltigkeit, indem in solchen Bildungsprozessen für alle Beteiligten deutlich wird, dass nur der Erhalt der Vielfalt der Zugänge zu den Lebensproblemen von Menschen eine Kultur der Mitmenschlichkeit erschafft. 
• Auf der Ebene der Partizipation, indem wir Sorge dafür tragen, dass Menschen bei der Lösung existenzieller Probleme selbsttätig und wertschöpfend Mitverantwortung übernehmen können.
• Auf der Ebene der Kooperation, als Aushandlung gemeinsamer Ziele und gemeinsamer Wege, die mit anderen Menschen geteilt werden können, und über die sich eine gemeinsame Freude am gemeinsamen Tun erst entwickeln kann.

Das ist eine Aufgabe, die uns zukünftig in einer besonderen Weise herausfordern wird. Sie kann alle jene reifer und bewußter werden lassen, die sich daran beteiligen wollen. Reifer in der Auseinandersetzung mit den Grenzproblemen des Lebens und bewußter für die Erfahrung, dass existenzielle Probleme im gemeinschaftlichen Handeln begreifbar und überwindbar werden. Wohl dem, der das erleben darf.